Johannes Tauler
Ein exemplarischer Dominikaner: Johannes Tauler
von Pfr. Michael Bangert
1. Biographische Skizze
Johannes Tauler wurde um 1300 als Kind einer angesehenen Bürgerfamilie in Straßburg geboren. Sein soziales Umfeld war die städtische Kultur der oberrheinischen Ebene. Mit ca. 14 Jahren trat er in das dortige Dominikanerkloster ein. Auch seine fundierte Ausbildung hat er vermutlich in diesem Konvent erhalten. Wesentliche Impulse empfing Tauler von Johannes von Sterngassen und vor allem von Meister Eckhart, der zwischen 1314 und 1323 seinen Amtssitz als Vikar des Ordensmeisters in Straßburg hatte. Johannes Tauler nimmt in einer seiner Ansprachen seinen Lehrer Eckhart in Schutz, in dem er dessen besondere Sichtweise betont und sie gegen eine dumpfe Jetzt-Fixierung abgrenzt:
„So lehrt es und sagt euch hiervon ein liebenswerter Meister, aber das versteht ihr nicht. Er sprach aus dem Blickwinkel der Ewigkeit, ihr aber faßt es der Zeitlichkeit nach auf.“
Er war nicht nur ein einfühlsamer Rhetoriker, sondern auch ein begabter Denker, der über eine profunde Kenntnis des Neuplatonismus verfügte und mit einigen philosophischen Fachleuten angeregte Kontakte unterhielt. Nach Abschluß der Ausbildungsphase übernahm Tauler Predigtfunktionen und Seelsorgedienste. Seine Zielgruppen bestanden im wesentlichen aus Bürgern und Frauenkonventen verschiedener Ordenszugehörigkeit. Diese „cura monialium“ hatten die Dominikaner nicht ganz freiwillig übernommen, doch die große Anzahl an Frauenkonventen machte aus Sicht der Kirchenleitung eine amtliche Betreuung notwendig. Zu dieser Funktion gehörte oft genug auch die wirtschaftliche Beratung der Klöster. Geographisch erstreckte sich das Wirkungsfeld Taulers hauptsächlich entlang des Rheins zwischen Basel und Köln. Wegen seiner mystischen Kompetenz wurde Tauler von weiten Kreisen, die sich einem kontemplativen Lebensweg verbunden fühlten, als „Geistlicher Meister“ geschätzt.
J. Taulers Lebenszeit war von vielen Unruhen und politischen Erschütterungen geprägt. Er wurde Zeuge der Pest und zahlreicher politischer Wirren. Durch den Konflikt zwischen dem 1325 exkommunizierten Kaiser Ludwig und Papst Johannes XXII. unterstand Straßburg, weil es die kaiserliche Partei unterstützte, von 1329 bis 1353 dem päpstlichen Interdikt. Und das bedeutete: Keine öffentlichen Gottesdienste, keine reguläre Sakramentenspendung! Lediglich Taufen und Krankensalbung waren im äußersten Notfall gestattet. Für die Menschen wurde der gesamte gesellschaftliche Deute- und Sinnzusammenhang in Frage gestellt. Angst und tiefgreifende Verunsicherung waren die Folge. Eine Reaktion darauf zeigte sich in allerlei schwärmerischen und – im heutigen Sinn: esoterischen – Gruppen. Johannes Tauler regte in seiner Predigttätigkeit die Zuhörer und Zuhörerinnen an, zu wahren „Gottesfreunden“ zu werden. Diese könnten dann die innerkirchliche Erneuerung tragen. 1338 erließ der Kaiser den Befehl, der Klerus in Straßburg habe das Interdikt zu mißachten. Die Straßburger Dominikaner gerieten in Gewissenskonflikt und verließen im Winter 1338/39 die Stadt.
Nachweislich hielt sich Johannes Tauler 1342/43 in Basel auf. Bereits in den vorherigen Jahren hatte er dort den Weltpriester Heinrich von Nördlingen und dessen mystische Bewegung der „Gottesfreunde“ kennengelernt. Eine lange und enge Freundschaft verband die beiden. Durch Heinrich von Nördlingen bekam Tauler auch Kenntnis vom Werk Mechthilds von Magdeburg, das dieser gerade aus dem Lateinischen ins Oberdeutsche übertrug. Auch die Kontakte zu der Mystikerin Margaretha Ebner aus dem spirituell sehr entwickelten Kloster Medingen hat Heinrich von Nördlingen geknüpft. Der einzige erhaltene Brief Taulers (datiert 28.2. 1346) ist an die Priorin von Medingen, Elsbeth Scheppach, gerichtet. Ein Auszug aus diesem Schreiben gibt beredt Zeugnis von dem diskreten Gespür und der liebevollen Aufmerksamkeit des Dominikaners für die Bedeutung des Kleinen und scheinbar Nebensächlichen:
„ich send euch, domina E. in Christo multum dilecta, zwen kesz und iren kinden zwai keslach und beger, das si sie gessen vor diser fasznacht. wissent, das ich si euch mit freuden send.“
[Ich übersende Euch, meine in Christus sehr liebe Frau Elsbeth, zwei Käse und für ihre Zöglinge zwei Käslein und wünsche, daß Sie sie vor der Fastnacht aufesst. Wisset, daß ich sie Euch mit Vergnügen sende.]
1343 konnten die Dominikaner nach Straßburg zurückkehren. Tauler blieb noch einige Jahre in Basel. Er übte von ca. 1350–1360 verschiedene Tätigkeiten im Bereich der klösterlichen Seelsorge aus und unternahm verschiedene Reisen. Sein von großer Mobilität geprägtes Leben mit zahlreichen Ortswechseln hängt auch mit der Einführung der „vita privata“ im Dominikanerorden zusammen, die die Ordensbrüder zwang, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Aus den letzten Lebensjahren sind keine Einzelheiten bekannt. Eine alte Überlieferung beschreibt, daß Johannes Tauler im Frühjahr 1361 erkrankt sei und infolgedessen im Gartenhaus der Dominikanerinnen in Straßburg gepflegt wurde. Am 16. Juni 1361 starb er und wurde im Kreuzgang des Dominikanerklosters beigesetzt. Sein Grabstein befindet sich heute in der sog. Neuen Kirche, die im 19. Jahrhundert an der Stelle des Klosters errichtet wurde.
2. Schriften
Das Werk Taulers besteht nicht aus theoretischen, systematisch aufgebauten Schriften. Seine Positionen sind uns nur vermittels der speziellen Form volkssprachlicher Predigten zugänglich. 84 Predigten sind uns überliefert. Bei der Verkündigungssituation sind stets auch rhetorische Aspekte zu berücksichtigen, die zu unvollständigen und fragmentarischen Aussagen führen können. Die Hörerinnen und Hörer hatten die berechtigte Erwartung, nicht nur dogmatisch korrekt belehrt, sondern auch innerlich gestärkt und getröstet zu werden. Entsprechend dem Genus der Predigt ist mit Ermahnungen und pädagogischen Interventionen zu rechnen. Daraus folgen u.U. gewisse Einseitigkeiten oder Verkürzungen. Insgesamt aber kann festgehalten werden, daß Taulers Vokabular präzise und eindeutig ist.
Häufig nutzt Johannes Tauler in seinen Predigten die Anredeformel „liebes kint“ oder „lieben kint“. Diese Sprechweise gründet in einem Verständnis der Ordensgemeinschaft, das die Familie als Modell versteht: Die Priorin ist die Mutter, der Spiritual der Vater, die Ordensschwestern sind die Kinder bzw. die Töchter. Mit dieser vertraulichen Anrede schafft Tauler die Möglichkeit, daß die Schwestern die Predigt ganz unvoreingenommen auf sich beziehen können. Die Predigt gilt in der Regel dem privaten Seelenleben der einzelnen Zuhörerin und will sie nach innen führen.
Die Einleitungen der Predigten sind recht kurz gefaßt. Zumeist wird der biblische Schrifttext kurz vorgestellt. Mit besonderer Vorliebe sind es Stellen aus dem Johannes-Evangelium. Machmal geschieht dies in wörtlicher Übertragung, bisweilen auch in eher erzählerischer Weise. Dabei wird schon das Zitat herausgestellt, welches den Ausgangspunkt der Homilie bilden soll. Die tieferen Bedeutungsschichten werden offengelegt, damit der einzelne Mensch eine Richtung für seinen Heilsweg findet. Ausgangspunkt kann auch das entsprechende Fest des Kirchenjahres sein.
Der Predigtaufbau folgt zunächst einem traditionellen Muster. Dem „exordium“, d.h. der Einleitung, folgt die „tractatio“, der Hauptteil. Hier werden die Themen ausgeführt und der Weg zur „unio mystica“, zur Begegnung mit Gott, aufgezeigt. Johannes Tauler verfügt über ein breites Spektrum an Sprachbildern, lyrischer Einfühlung und sentenzenartigen Formulierungen. Einen zusammenfassenden Rückblick am Ende der Predigt – eine sog. „conclusio“ – sucht man bei Johannes Tauler vergebens. Auf dem Höhepunkt der thematischen Ausführung schließt er gewöhnlich relativ abrupt mit einer kurzen Schlußformel. Die stereotype Formel: „daß uns allen dies geschehe, dazu helfe uns Gott“, wird jeweils mit einem themenbezogenen Wunsch verbunden. Diese Bitte erscheint zumeist wie ein verdichtetes Gebet. Gerade die Kürze, die ,Verdichtung‘, von Taulers Predigtschlüssen verweist darauf, daß der existentielle Vollzug des Gehörten durch nichts ersetzbar ist. Durch den offenen Schluß übergibt der Prediger gleichsam die Stafette an den zuhörenden Menschen. Die Predigt hat lediglich eine Art Hebammenfunktion.
Eine Schwierigkeit, Tauler selbst in seinem Werk zu hören, liegt darin, daß seine Predigtsammlung vermutlich durch Mitschriften entstanden ist, die in den entsprechenden Schwesternkonventen angefertigt und von Tauler korrigiert wurden. Da die Predigten oftmals ein recht hohes Reflexionsniveau zeigen, kann davon ausgegangen werden, daß der Kreis der Zuhörer und Zuhörerinnen ebenfalls über eine solide Bildung verfügte.
Die denkerische Grundlage seiner Texte bildet die platonische bzw. neuplatonische Philosophie. Texte von Platon, Origenes, Dionysios Areopagita und Augustinus sind ihm gut vertraut. Ohne diesen gedanklichen Hintergrund sind seine Predigten nicht zu verstehen. Es finden sich dort zahlreiche Anklänge an bzw. Entlehnungen von Meister Eckhart, Thomas von Aquin und Albertus Magnus. Diskret zwar, aber deshalb nicht weniger entschieden, tritt Johannes Tauler für die Rechtgläubigkeit Meister Eckharts ein. Mit der geistlichen Tradition des Christentums ist er bestens vertraut, angefangen bei der Frömmigkeit des Apostels Paulus, des Johannes-Evangeliums und der Wüstenväter.
Das Werk Taulers hatte eine starke Wirkung in der Spiritualitätsgeschichte. So unterschiedliche Persönlichkeiten wie der Jesuit Petrus Canisius und der Reformator Thomas Müntzer gehören zu seinen Lesern. Wesentlich aber hat zu seiner Publizität in Deutschland kein Geringerer als Martin Luther beigetragen, der eine gründliche Kenntnis der Taulerschen Werke besaß. Johannes Tauler und die unter seinem Namen verbreiteten Schriften sind für Luther der Maßstab einer echt „teuschen theologia“. Tauler kann fraglos als der mystische Gewährsmann des jungen Reformators gelten: „Ich habe mehr in ihm von wahrer Theologie gefunden als in allen Doktoren aller Universitäten zusammengenommen; weder in lateinischer noch in deutscher Sprache habe ich eine Theologie gesehen, die heilsamer und mit dem Evangelium übereinstimmender ist.“39 Vermutlich konnte er gerade das reformatorische Prinzip „sola gratia“ („allein die Gnade zählt“) in Taulers Umgang mit der Schuld wiederentdecken?
Über diese Vermittlung wurde die mystische Frömmigkeit im Protestantismus stark beeinflußt.
Um die feine psychologische Beobachtungsgabe und die Sprachkraft Johannes Taulers zunächst exemplarisch darzustellen, soll einer seiner berühmtesten Texte vorgestellt werden:
„Das Pferd macht den Mist in dem Stall, und obgleich der Mist Unsauberkeit und üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld; und daraus wächst der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, der niemals wüchse, wäre der Mist nicht da. Nun, der Mist, das sind deine eigenen Mängel, die Du nicht beseitigen, nicht überwinden noch ablegen kannst, die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willens Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld, daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle, wonnigliche Frucht auf.“
Mit einem einfachen und sehr vertrauten Bild thematisiert Johannes Tauler die Grundproblematik menschlicher Schuld. Ohne seine Absicht mit gezieltem Druck oder moralisch verbrämter Manipulation vorzutragen, ist doch unmittelbar klar, daß von Zeit zu Zeit ein „Ausmisten“ nötig ist, um nicht am Unrat des eigenen Lebens zu ersticken. Der Übertrag von der Bildebene (Pferd / Mist / Stall) auf eine Deutungsebene (Mensch / Schuld / Leben) kann geradezu mühelos geschehen. Johannes Tauler legt hier eine ausgewogene Gnadenlehre vor: Der Mensch kann vielerlei Fehler und Mängel von sich aus nicht beseitigen, ja mancher „Mist“ gehört nahezu zu seiner geschöpflichen Bedingtheit, und so ist er zutiefst auf die gnadenhafte Zuwendung Gottes angewiesen. Der Vorrang der Gnade führt aber nicht zur Lethargie des Menschen. Die menschliche Aktivität beim „Ausmisten“ ist gefordert. Durch seine Mitarbeit kann jeder, indem er die eigene Mangelexistenz auf den „Acker Gottes“ ausbringt, nicht nur einen knappen Ausgleich schaffen. Dem Mensch wird sein eigenes Versagen zur – wie es in der Osterliturgie heißt – „felix culpa“, d.h. zur „glücklichen Schuld“, weil Frucht und Heil daraus erwachsen.
3. Alltag und Mystik
ie Texte, die uns von Johannes Tauler überliefert sind, gehen aus seiner Predigttätigkeit hervor. Doch weiß sich die in den Predigten enthaltene Hinführung zur Mystik nicht vorrangig einer klösterlichen oder einer klerikalen Frömmigkeit verpflichtet. Oft spricht er davon, daß sich die christliche Spiritualität nicht nur irgendwie im konkreten Tun beweisen müsse, sondern er legt dar, wie sich geistliches Leben darin unmittelbar ereignet. Für ihn persönlich versinnbildlicht dies die Gestalt des Schuhmacherhandwerks. Das Heil ließe sich für ihn nicht nur als Priester und Ordensmann verwirklichen:
„Wisset, wäre ich nicht Priester und lebte nicht in einem Orden, ich hielte es für ein großes Ding, Schuhe machen zu können, und ich wollte es besser machen als alles andere und wollte gerne mein Brot mit meinen Händen verdienen.“
Das alltägliche Tun ist nicht gering zu achten, denn auch die scheinbaren minderen Tätigkeiten können Orte intensiver Gotteserfahrung sein. Wichtig ist für Johannes Tauler, das individuelle Gerufen-Sein aber innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft zu verwirklichen, wobei er keinerlei neuzeitliche Hierarchiefixierung zeigt, sondern die Glaubenden und die Geisterfüllten im Sinne der johanneischen Theologie im Blick hat.
Johannes Tauler spricht an einer Stelle davon, daß er einen Mann kenne, der beim Korndreschen in eine ekstatische Verzückung geraten sei. Dadurch wird deutlich, daß in seiner geistlichen Lehre auch die als niedrig angesehene Handarbeit ein potentieller Ort für den Einbruch der Dimension Gottes in das menschliche Leben ist. In diesem Kontext führt er weiter aus:
„Ich kenne einen allerhöchsten Freund Gottes: der ist all seine Tage ein Ackersmann gewesen, mehr denn vierzig Jahre, und ist es auch heute noch. Der fragte einst unseren Herrn, ob er seine Arbeit drangeben und zur Kirche gehen sollte. Da sprach dieser: Nein, das solle er nicht tun; er solle im Schweiße seines Angesichtes sein Brot gewinnen, zu Ehren des kostbaren Blutes des Herrn. Der Mensch soll sich bei Tag oder in der Nacht eine Zeitspanne nehmen, in der er sich in seinen Grund versenken kann, jeder nach seiner Weise. Die edlen Menschen, die in Lauterkeit ohne Bilder und Formen sich in Gott versenken können, mögen es auf ihre Weise tun. Die anderen mögen, ein jeder auf seine Art, eine gute Stunde auf diese Übung verwenden.“
Die Tag für Tag sich bewährende Treue zum eigenen Gebetsrhythmus steht für Johannes Tauler im Vordergrund. Außerordentliche und exzentrische Gebetsübungen betrachtet er mit größter Zurückhaltung und mißt ihnen keinerlei wirkliche Entwicklungskraft zu:
„Da kommen denn viele Leute und erdenken sich mancherlei Wege, um zu diesem Ziel zu gelangen: die einen wollen ein Jahr lang von Wasser und Brot leben, die anderen eine Wallfahrt machen, bald dies, bald das. Ich nenne Dir den einfachsten und kürzesten Weg: Geh in deinen Grund und prüfe, was Dich am meisten hindert, Dich am meisten von der Erreichung des Zieles zurück hält; darauf richte deinen Blick. Diesen Stein wirf in des Rheines Grund. Wenn nicht, lauf bis zum Ende der Welt, und tu alles mögliche, es hilft Dir nichts. Das Messer, das das Fleisch vom Knochen trennt, heißt Sterben des eigenen Willens und Begehrens. Viele Leute töten die Natur und lassen die Gebrechen leben: daraus wird nie etwas.“
Der feinsinnigen Beobachtungsgabe des Dominikaners ist es nicht entgangen, daß es bisweilen auf dem Weg der Kontemplation geradezu widersprüchliche Bewegungen gibt. Auch scheinbar herausragende Frömmigkeitsübungen können den Menschen von Gott entfernen, weil sie letztlich aus einem egozentrischen Impuls erfolgen. So kann es eben geschehen, daß jemand eine bestimmte spirituelle Praxis zeigt, geistliche ,Erfolge‘ sammelt und darum Anerkennung und hohes Ansehen genießt. Tragischerweise bleibt dieses Bemühen an der Oberfläche haften, wenn der Mensch sich nicht an den „grunt“ seiner Seele begibt, d.h. an den „ortlosen Ort“ im Inneren, wo die Dimension Gottes die menschliche Fassungskraft geheimnisvoll berührt. Dieses Versenken in sich selbst hat allerdings keine Absonderung der einzelnen Menschen voneinander zur Folge, denn die Menschen haben einen gemeinsamen Ursprung und ein gemeinsames Ziel:
„Wir sind aus demselben Ursprung ausgeflossen, und mit allem, was wir sind, haben wir dasselbe Ziel und kehren zu demselben Ursprung zurück.“
Die Position Taulers ist hier von einer zyklischen Vorstellung über den geistlichen Weg bestimmt: Der Mensch geht von der Einheit im göttlichen Urgrund aus und muß zu dieser Einheit zurückkehren. Für Johannes Tauler ist der göttliche Urgrund, zu dem der Mensch heimkehren soll, das eigentliche Lebenselement. Nur darin kann der Mensch seine Ruhe finden:
„Wie es den Stein zur Erde zieht und das Feuer zur Luft aufflammt, so zieht es die Seele zu Gott.“
Doch die Predigten Taulers hüten sich, dem Seelengrund selbst eine göttliche Natur zuzusprechen. Die Geschöpflichkeit des gesamten Menschen wird nachdrücklich betont:
„Wenn das ewige Wort in den Grund der Seele gesprochen wird und der Grund so viel Bereitschaft und Empfänglichkeit zeigt, daß er das Wort aufnehmen kann in seiner Ganzheit und in erzeugender Weise, nicht nur teilweise, sondern gänzlich: da wird der Grund eins mit dem Wort in Wesenheit; doch behält der Grund seine Ge-schaffenheit in seinem Wesen noch in der Vereinigung.“
4. Gebet und Lebenswende
Im Gegensatz zu den meisten geistlichen Lehrmeistern und Lehrmeisterinnen schreibt Johannes Tauler der Entwicklung des mystischen Lebens größte Bedeutung zu. Er scheint anzunehmen, daß der Mensch kaum vor seinem vierzigsten Lebensjahr den Weg der Vollkommenheit einschlagen und kaum vor dem fünfzigsten Jahr eigentliche mystische Gnaden erhalten könne. In einer Predigt zum Fest Christi Himmelfahrt äußert sich Tauler ausdrücklich zu diesem Konzept:
„Der Mensch tue, was er wolle, und fange es an, wie er wolle, er kommt niemals zum wahren Frieden, noch wird er dem Wesen nach ein Mensch des Himmels, bevor er an sein vierzigstes Lebensjahr kommt. ... Bis dahin ist der Mensch mit so vielerlei beschäftigt, und die Natur treibt ihn hierhin und dorthin, und manches ist, was die Natur in ihm oft beherrscht, während man wähnt, es sei ganz und gar Gott. Und er kann nicht zum wahren, vollkommenen Frieden kommen noch ganz des Himmels werden vor jener Zeit. Dann soll der Mensch noch zehn Jahre warten, ehe ihm der Heilige Geist, der Tröster, in Wahrheit zuteil werde. Der Geist, der alle Dinge lehret. ... Ungeachtet er im Alter von vierzig Jahren zur Besonnenheit gekommen ist und himmlisch und göttlich geworden und seine Natur einigermaßen überwunden hat, braucht er doch zehn Jahre und ist um die fünfzig herum, ehe ihm der Heilige Geist in der edelsten und höchsten Weise zuteil werde. Eben dieser Heilige Geist, der ihn alle Wahrheit lehrt. In diesen zehn Jahren, in denen der Mensch zu einem göttlichen Leben gelangt ist und seine Natur überwunden hat, wird er sich in sich selbst kehren, sich einsenken, einschmelzen in das reine, göttliche Gut, wo das edle Seelenfünklein eine gleiche Rückkehr und ein gleiches Zurückfließen in seinen Ursprung hat, von dem es ausgegangen ist.“
Die moderne Entwicklungspsychologie spricht von dem Phänomen der midlife crisis. Diese Krise der Lebensmitte wird als eine Phase der Neuorientierung und des Abfindens mit dem Prozeß des Alterns verstanden. Hier könnte ein Bezug zwischen dem spirituellen Lebenskonzept bei Johannes Tauler und der neuzeitlichen Einteilung hergestellt werden, denn die Hingabe an das Geheimnis Gottes wird möglicherweise erst dann zu einer Grundhaltung des geistlichen Weges, wenn das natürliche Macht- und Geltungsstreben zu einer gewissen Ruhe und Erfüllung gekommen ist.
Für Johannes Tauler spielt die Zeit, d.h. die Dauer der geistlichen Reifung, eine ausschlaggebende Rolle. Es geht ihm um eine ruhige und unbedrängte Entwicklung. Der Mensch, der sich für die mystische Frömmigkeit entschieden hat, kann darauf vertrauen, daß dieser Weg stetig vorangeht. Das Bedächtige und bisweilen Unmerklich-Zögernde macht den Dominikaner zu einem mittelalterlichen ,Entdecker der Langsamkeit‘. Auch wenn sich die Zeit der Reifung in Taulers Sicht prinzipiell nicht abkürzen läßt, ist das Ergebnis keinesfalls bleierne Langeweile. Die Entwicklung birgt zahlreiche Schritte, die eine intensive Erlebnisqualität haben. So lebt die spirituelle Entfaltung zwar nicht von inneren Gefühlssensationen, doch fraglos ist auch vor dem vierzigsten Jahr eine hohe Gefühlsdichte möglich, die das ganze Spektrum von Glück und Leiden umfaßt. Erst nach der Lebensmitte stellt sich nach Tauler eine natürlich bedingte Gelassenheit ein, die eine Grundvoraussetzung für den Empfang der göttlichen Gnade bildet. Johannes Tauler teilt die Lebensphasen allerdings nicht starr oder mechanistisch ein, denn diese Gelassenheit versteht er nicht als eine menschliche Leistung, welche zwangsläufig die mystische Erfahrung bedingt. Vielmehr ist die Gelassenheit selbst schon Ausdruck der gnadenhaften Zuwendung Gottes. Sie wächst dem Menschen in einer „zweiten Bekehrung“ zu, die den Weg nach innen eröffnet. Tauler ist so sehr Realist, daß er die äußerliche Dynamik der ersten Lebensphasen als so stark einschätzt, daß sie eine weitgehende Dominanz besitzen kann:
„Ach, es ist doch in Wahrheit ein erbärmlich und kläglich Ding, daß unter geistlichen Leuten jemand dreißig und vierzig Jahre lebt, fragt und klagt und ein ganz unnützes Leben führt und bis heute noch nicht weiß, woran er ist.“
Hier wird eine schädliche Dynamik beschrieben, die immer nur um sekundäre Dinge kreist und nicht zum Wesentlichen kommt. Die innere Gelassenheit, d.h. das sich selbst Gott Überlassen, kann dann nicht Wirklichkeit werden. Es besteht die Gefahr für einen solchen Menschen, in die Sinnlosigkeit zu verfallen und das Ziel des Lebens zu verfehlen.
Seine Kritik an denjenigen, die eine mystische Frömmigkeit in oberflächlicher Weise praktizieren, kann durchaus rauhe Züge annehmen. Dann ist oft das pädagogische Interesse des Predigers zu spüren: mit harschen Tönen sucht er Verhärtungen aufzubrechen, damit die Zuhörer auf den Weg der spirituellen Wandlung zurückkehren. Tauler geht es dabei um die entschiedene Redlichkeit, die sich nicht mit äußeren Phänomenen zufriedengibt. Die „kehr nach innen“, die sich durch eine Gelassenheit gegenüber dem Willen Gottes auszeichnet, ist ab einer gewissen Lebenserfahrung einfach angemessen. Ansonsten kommt es zu einer Blockade des geistlichen Weges. Ungerechtfertigte Beurteilung anderer, Besserwisserei, Selbstüberschätzung, falsche Eigenwahrnehmung, rigides Auftreten und quälendes Querulantentum sind – damals wie heute – die Folge. Dagegen wird ein spirituelles Leben die Dynamik des heilenden Geistes schützen und erhalten. Es gilt, eine ganz selbstverständliche Orientierung am Willen Gottes zu gewinnen:
„Da kommen nun die eingebildeten Leute mit ihrer dünkelhaften Art: es sollte – sagen sie – dies so oder so sein; und sie wollen einen jeden nach ihrem Kopf beurteilen, nach ihren Sinnen, auf ihre Weise. Vierzig Jahre haben sie in geistlichem Gewand gelebt und wissen noch nicht, woran sie sind.“
Die Rede von der Bedeutung der Wende um das vierzigste Jahr findet sich in Taulers Predigten im Vergleich zu anderen geistlichen Texten recht häufig. Möglicherweise hat dies seinen Grund darin, daß Johannes Tauler im Erwachsenenalter in eine neue Phase des geistlichen Lebens eingetreten ist und eine Vertiefung erfahren konnte. Ob Tauler allerdings mystische Begegnungen selbst erlebt hat, bleibt hinter seiner Zurückhaltung und diskreten Rede verborgen.
5. Literatur:
Johannes Tauler, Predigten. 2 Bde. Hrsg. u. übertr. v. Georg Hofmann, Einsiedeln 1979.
Michael Bangert, Mystik als Lebensform. Aschendorff 2003, S. 96-115.
Grabplatte von Johannes Tauler (Foto: Hanspeter Rast)